McCann, Colum: Apeirogon, Rowohlt Verlag 2020, 595 Seiten.

Der irische Autor Colum McCann ist einer der renommiertesten Schriftsteller der Gegenwart. Für seine Romane und Erzählungen erhielt er zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den National Book Award, den bedeutendsten us-amerikanischen Literarturpreis neben dem Pulitzer-Preis.

Das Buch handelt von zwei Männern, dem Israeli Rami Elhanan und dem Palästinenser Bassam Aramin, die beide durch einen gewaltsamen Zwischenfall eine Tochter verloren haben. Ramis Tochter Smadar fiel im Alter von knapp 14 Jahren einem Selbstmordattentat zum Opfer, das junge Palästinenser auf der Ben-Jehuda-Straße mitten in Jerusalem verübten. Zehn Jahre später wurde Bassams zehnjährige Tochter Abir von einem gummiummantelten Geschoss, das ein 18jähriger Grenzsoldat abgeschossen hatte, am Hinterkopf getroffen. Sie war in der Schule und hatte sich in einer Pause in einem gegenüberliegenden Laden Süßigkeiten gekauft; auf dem Weg zurück zum Schulhof passierte es. Sie überlebte noch den – infolge der Straßensperren qualvoll langen – Weg in ein Jerusalemer Krankenhaus, wo sie verstarb.

Die Väter lernen sich bei den Combatants for Peace kennen, die sich regelmäßig in Bait Dschala treffen. Sie beschließen, gemeinsam ihre Geschichten zu erzählen, und bereisen zu diesem Zweck Europa und die USA. Ihr Anliegen: sich für Überwindung des Hasses und der sinnlosen Gewalt einzusetzen.

Ein Apeirogon ist „eine [geometrische] Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten“ (S. 114). Das Wort kommt „Von griechisch apeiron: Das Unbegrenzte, das Unbestimmte.“ (S. 544) Dass das Bild von der „unendlichen Menge Seiten“ die äußerst komplexe Lage in Israel und der Westbank treffend beschreibt, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Darüber hinaus wird „Apeirogon“ aber auch zum Gestaltungsprinzip des Romans auf seinen verschiedenen Ebenen: hinsichtlich des Inhalts ebenso wie hinsichtlich der Struktur. 

Das Buch besteht aus zweimal 500 durchnummerierten Abschnitten von sehr unterschiedlicher Länge – von drei Wörtern („Beendet die Besatzung“, S. 277) oder auch nur einem kleinen Bild bis zu mehreren Seiten. In der Mitte des Buches stehen die Erzählungen, die die beiden Väter auf ihren Reisen vortragen; sie haben beide die Nummer 500, danach wird rückwärts nummeriert, zurück wiederum bis zur Nummer 1. Außer in den zentralen Abschnitten wird das facettenreiche Geschehen – die beiden Todesfälle, die Treffen der Combatants for Peace, die Vortragreisen u.a. – in Bruchstücken erzählt, die nicht streng chronologisch angeordnet sind. In Bezug auf die Todesfälle kann man das verstehen als Flashbacks, die unkontrollierbar im Kopf der Hinterbliebenen auftauchen. Für die Leserin und den Leser entsteht so nach und nach ein Gesamtbild, das in den zentralen Abschnitten zusammengefügt und ergänzt wird. 

Immer wieder werden allerdings auch Begebenheiten und Informationen eingestreut, die mit dem Hauptgeschehen allenfalls assoziativ verbunden sind. Das kann man als erzähltechnische Widerspiegelung einer Welt begreifen, in der Tod, Zerstörung und Ansätze zu deren Überwindung auf vielfältigste Weise vorkommen. Nicht immer erschließt sich indes der Bezug zum Hauptgeschehen; es kommt bisweilen zu Längen. Hier erweist sich das Prinzip „Apeirogon“ als „Das Unbegrenzte, das Unbestimmte“ als etwas problematisch. Sehr überzeugend und zugleich entlarvend wird das Bild von der „unendlichen Menge Seiten“ aber wiederum in der Schilderung, wie verschiedene israelische Medien Abirs Tod immer wieder neu erzählen und deuten: Da wird sie dann etwa als Opfer eines palästinensischen Steinewerfers ausgegeben oder gar selbst als Steinewerferin beschrieben, gegen die sich der junge Grenzsoldat habe verteidigen müssen. Die „unendliche Menge Seiten“, die eine Situation haben kann, wird hier schamlos zur Verschleierung der Tatsachen genutzt, indem Seiten frei hinzuerfunden werden – „alternative Fakten“ hat man das an anderer Stelle genannt.

Der Autor nennt das Buch einen „Roman“. Aber ihm liegen tatsächliche Ereignisse zugrunde und die handelnden Figuren sind reale Personen, die mit ihren Klarnamen benannt werden. So ist z.B. die Mutter der getöteten Israelin Smadar, die im Roman fast nur mit ihrem Vornamen Nurit genannt wird, die Tochter eines israelischen Generals, der eine wichtige Rolle im Sechstagekrieg spielte und später zum Friedensaktivisten wurde. Auch die Tochter, Nurit Peled-Elhanan, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem, ist eine Friedensaktivistin, Mitbegründerin der Gruppe „Trauernde Eltern für den Frieden“ (Bereaved Parents for Peace; wörtlich „Eltern, die jemanden verloren haben / hinterbliebene Eltern…“). Als Benjamin Netanjahu, den Nurit seit ihrer Schulzeit kennt, sich nach dem tragischen Tod Smadars bei ihr zu einem Kondolenzbesuch anmeldet, verwehrt sie ihm dies, wie der Roman erzählt. In einem Interview vertritt sie einen bemerkenswerten Standpunkt, der dies erklärt: „Die Attentäter seien nicht schuld an den Morden […] Sie seien selber Opfer. Die Schuld trage Israel. Das Blut der Toten klebe an Israels Händen. An Netanjahus Händen. Auch an ihren eigenen, sagte sie. Sie sei keine Ausnahme, alle trügen eine Mitschuld. Unterdrückung. Tyrannei. Größenwahn.“ (S. 456). Aufschlussreich wiederum der Umgang der Medien damit: „Das Interview wurde im israelischen Fernsehen gesendet. Experten urteilten, sie stehe noch unter Schock.“ (ebenda) Kritische Selbstreflexion und daraus zu ziehende Lehren auf politischer Ebene? Fehlanzeige! Stattdessen nur wieder unterschiedliche Seiten und Sichtweisen, die hier zur Abwiegelung eingesetzt werden – auch so wirkt „Apeirogon“.

Übrigens wird auch der junge Grenzsoldat, der die kleine Abir erschossen hat, als Opfer bezeichnet: als „Opfer der Angstindustrie. Unsere Politiker reden mit furchtbarer Überheblichkeit: Sie fordern Tod und Rache. Wir aber rufen ihnen zu: Raus mit euren Waffen aus unseren Träumen. Wir haben genug, sage ich, genug, genug.“ (S. 480) 

Der das sagt, ist ein Bruder Abirs. Es ist beeindruckend zu sehen, wie es die von Gewalt Betroffenen sind, die Rache ablehnen und die Überwindung der Gewalt fordern. Ernüchternd aber auch, wie wenig Gehör sie in der Gesellschaft finden. Immer wieder erleben die Väter bei ihren Auftritten, dass die Bewertung der Lage in Israel und dem Westjordanland nicht nur sehr unterschiedlich ist (auch hier das Prinzip „Apeirogon“), sondern dass die Standpunkte der Zuhörer*innen oft sehr einseitig und großenteils sehr verhärtet sind. Bei einem Auftritt auf „der Konferenz der amerikanischen Pro-Israel-Lobby AIPAC“ (S. 577 ff.), wo viele den Saal verlassen, als nur das Wort „Besatzung“ fällt, ruft Bassam seinen Zuhörern daher zu: „Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns.“ (S. 580) Und unter Anspielung auf die Waffen, die ins Land gelangen und deren Nachschub niemals zu versiegen scheint: „Investieren Sie nicht in Blutvergießen, investieren Sie in unseren Frieden.“ (ebenda) 

Heinz Gierlich